Wie steht es um unsere Demokratie, Marc?
Zum Abschluss unserer Studien haben wir Prof. Dr. Marc Bühlmann, Politikwissenschaftler an der Universität Bern und Leiter des Année Politique Suisse, gefragt, wie es um die Demokratie in der Welt steht, was er gerne selbst einmal erforschen würde und ob es ein Zuviel an Partizipation gibt.
Marc, ganz generell: Wie steht es um die Demokratie? In der Schweiz und in der Welt?
Marc Bühlmann: Aktuelle Befunde legen nahe, dass «die Demokratie» in der Krise steckt und die Zahl der Menschen, die in einem demokratisch regierten Land leben, seit einigen Jahren zurückgeht. Allerdings weckt dieser Befund bei mir aus mindestens drei Gründen einige Skepsis. Erstens ist die Diagnose, dass Demokratie in der Krise stecke, so alt wie die Demokratie selber. Schon Platon und Aristoteles hoben vor allem die problematischen Seiten von Demokratie hervor. Wenn wir zweitens nicht nur die letzten 10 bis 20 Jahre betrachten, sondern die letzten 2500 Jahre (die attische Demokratie hatte im 5. Jh. vor Christus ihre Hochblüte und bis ins 19. Jahrhundert gab es nirgends demokratisch regierte Staaten), so können wir nach wie vor von einer eindrücklichen Demokratisierung sprechen – auch wenn die Zahl demokratischer Länder zurückzugehen scheint. Drittens ist gerade die Schweiz ein gutes Beispiel für eine Demokratie, deren Institutionen so miteinander verwoben sind, dass sie verschiedensten Angriffen standhält.
Zudem: Krisen sind immer auch Möglichkeiten zu lernen. Welche institutionellen Settings, welche checks and balances eine Demokratie resilient machen, wird sich mit der Zeit weisen. Ich denke, dass die meisten Menschen lieber in einer Gesellschaft leben, in der sie Entscheidungen mitbestimmen können, von denen sie betroffen sind, als in einem Staat, in dem sie nur tun und denken dürfen, was ihnen befohlen wird. Die Mehrzahl der Menschen, welche Erfahrungen mit Demokratie gemacht haben, dürften bereit sein, diese Errungenschaften auch zu verteidigen. Demokratische Systeme lassen sich entsprechend kaum mehr langfristig und flächendeckend abschaffen. Es ist sicher nicht alles einfach gut, aber Demokratie wird nach wie vor hochgehalten.
Welches demokratische Experiment würdest du selbst gerne einmal durchführen?
Marc Bühlmann: In der Diskussion um die Krise der Demokratie fordern zahlreiche Stimmen mit Blick auf die Schweiz, dass mehr direkte Demokratie eingeführt werden sollte. Vermutlich ist es aber nicht einfach bloss die direkte Demokratie, die in der Schweiz für politische Stabilität, politisches Vertrauen und Zufriedenheit mit dem politischen System sorgt. Ein zentraler Grund für das gute Funktionieren der Demokratie in diesem Land dürfte vielmehr das ausgeklügelte Zusammenspiel zwischen repräsentativer und partizipativer Demokratie sein. Auch deshalb kann der Krise der (repräsentativen) Demokratie wohl nicht einfach mit «mehr direkter Demokratie» begegnet werden. Häufig wird aber auch argumentiert, dass direkte Demokratie nur in der kleinen Schweiz mit ihrer jahrhundertealten Tradition der Mitsprache funktioniere. Ich würde gerne testen, ob das stimmt und auf welche Weise mehr Mitsprache in anderen Ländern mit repräsentativen Elementen verknüpft werden müsste, damit die Zufriedenheit mit dem politischen System und das Vertrauen in die Politik auch dort wieder zunehmen. Liesse sich auch in anderen Ländern ein «institutionalisierter Zwang zum Dialog» einrichten, wie ich das nenne? Könnten auch in anderen Ländern Beteiligungsinstrumente eingerichtet werden, mit denen unterschiedliche Argumente ins politische System getragen, angehört und ernst genommen und dann in einer öffentlichen Diskussion verhandelt werden müssen – ohne dem Populismus Vorschub zu leisten?
Können wir zu viel Partizipation haben – und wo liegt die Grenze zwischen demokratischer Mitbestimmung und politischer Überforderung?
Marc Bühlmann: Politische Rechte zu haben bedeutet auch das Recht zu haben, sie nicht wahrzunehmen. Die meisten Studien zu politischem Engagement in der Schweiz zeigen, dass jene Menschen partizipieren, die sich für Politik interessieren und sich von einem Thema betroffen fühlen. Wer sich überfordert fühlt, holt sich entweder Hilfe – sei dies bei der präferierten Partei, bei Peers oder auf der Basis verschiedenster Informationsquellen – oder nimmt nicht teil. Solange es weder Partizipationszwang noch systematischen Ausschluss gibt, kann es ein zu viel an Partizipation also nicht geben. Demokratischer Mitbestimmung werden dort Grenzen gesetzt, wo Menschen die Teilnahme verweigert wird, wo Orientierungshilfen zu komplex oder zu wenig verfügbar sind. Nicht die Beteiligungshöhe ist ein Qualitätsmerkmal für Demokratie, sondern der Grad an Verhinderung von Exklusion. Eine Begrenzung von Partizipation – sei es aus Angst vor Überforderung, sei es aufgrund von Exklusion – führt dazu, dass das eigentliche Versprechen und Potenzial von Demokratie zerstört wird: Der Austausch möglichst vieler unterschiedlichster Argumente, die mithelfen, gemeinsam eine stets nur vorläufige und immer wieder diskutierbare Lösung zu finden.